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Was ich erlebt habe, seitdem der Krieg begann.

Ein persönlicher Bericht von Nastya Karpukhno.

Hallo, ich bin Nastya, ich bin 18 Jahre alt und komme aus der Ukraine.

Die Ukraine ist das größte Land in Europa. Unser Land wird von den Wellen des Schwarzen und des Asowschen Meeres umspült. Die Ukraine ist auch berühmt für ihre fruchtbaren Böden, den großen Fluss Dnjepr und die Karpaten. Am stolzesten ist die Ukraine jedoch auf ihr talentiertes, fleißiges und friedliebendes Volk.

Jetzt machen wir alle schwierige Zeiten durch. Wir alle hatten unsere eigenen Pläne und Träume für die Zukunft. Ich träumte davon, an meinem schönsten Geburtstag, wenn ich 18 werde, meinen Führerschein zu machen und Auto zu fahren. Ich wollte mit meinen Klassenkameraden auf die Universität gehen, mich mit ihnen austauschen, Wissen von Lehrern erhalten, mit meinen Freunden Zeit verbringen, ins Kino gehen, arbeiten, reisen, meine besten Jahre leben.         

Meine Eltern und ich träumten immer von einem eigenen Haus, ich träumte von einem Hund.

Mein Vater arbeitete als LKW-Fahrer, oft konnten wir uns mehr als sechs Monate lang nicht sehen, meine Mutter arbeitete auch von morgens bis abends für den Traum, aber der Krieg entschied alles anders…

“Dieses Jahr begann der Frühling anders als sonst.”

Ich hatte mich immer für meine Großmutter interessiert, die den letzten großen Krieg überlebt hatte. Wer hätte gedacht, dass ich einmal selbst einen Krieg in unserem Land erleben würde.

Am Tag bevor der Krieg begann kam mein Vater von der Arbeit zurück. Wir hatten uns wieder ein halbes Jahr lang nicht gesehen und wir fuhren gemeinsam zu meiner Mutter, die in einem Hotel- und Restaurantkomplex in Bucha arbeitete. Wir übernachteten dort. Ich plante eine Feier für meinen 18. Geburtstag, der in 2 Tagen, am 26. Februar sein sollte. Das sollte ein großer Tag für mich sein.

Am 24. Februar 2022 um 04:35 Uhr wurden wir alle von unerklärlichen Explosionen geweckt. Zuerst blieben wir ruhig, fingen an in den Nachrichten zu lesen  aber es war noch nichts bekannt. Die Explosionen wurden immer häufiger und lauter, dann ging die Sirene an und schließlich meldeten die Medien: ,,Russland hat die Ukraine angegriffen…” In solchen Momenten scheint die Zeit stehen zu bleiben und man weiß nicht, was man tun soll. Der Krieg teilt wohl das Leben eines jeden Ukrainers in ein Davor und ein Danach.

Nichts desto trotz waren an diesem Tag, wie auch an anderen Tagen, viele Menschen im Hotel- und Restaurantkomplex. Der Koch bereitete das Essen vor, meine Mutter und ich bedienten und nahmen Bestellungen auf. Das Einzige, was diesen Tag von den anderen unterschied, war der Blick aus dem Fenster. Der nahegelegene Flugplatz von Gostomel auf der anderen Seite des Feldes wurde bombardiert. Seit dem ersten Tag fanden dort schwere Kämpfe statt. Es flogen Raketen über uns, es gab Explosionsgeräusche und man hörte Granateneinschläge aber wir hofften, dass alles bald zu Ende sein würde. Es wurde Abend und wir begannen zu begreifen, dass dies ein echter Krieg und eine große Gefahr war, aber wir hatten keinen Keller, wir hatten keinen Schutz. Wir sammelten die verfügbaren Decken und Kissen ein, legten sie auf den Boden unter der tragenden Wand (es schien uns, dass es dort am sichersten war), machten alle Lichter aus und versuchten zu schlafen. Natürlich konnten wir nicht schlafen. Nachts ist es unheimlich, man liegt auf dem Boden, trägt eine Jacke, eine Mütze, einen Schal und Schuhe. Sobald man ein Geschoss über sich fliegen hört, drückt man sich auf den Boden, schließt die Augen, bedeckt den Kopf mit den Händen und betet im Geiste, dass einem nichts passieren möge. In diesem Moment zittert alles, Geschirr, Fenster, Türen, der Boden… und du selbst.

Der lang erwartete Morgen bricht an aber es ändert sich nichts, nur noch mehr Granatenlärm, der nicht aufhört, Bomben, Flugzeuge und schockierende Nachrichten. Alle Menschen verlassen nach und nach die Stadt. Aber das Personal der Hotelanlage bleibt. Es gibt keine Straße mehr die nach Hause führt, keine Brücke, die Irpin mit Kiew verbindet. Nach den Informationen aus den Nachrichten und von unseren Freunden wussten wir, dass Teile von Bucha bereits von russischen Truppen besetzt waren und Menschen, die den Ort gerade verließen, in ihren Autos erschossen wurden. Wir wussten nicht, was wir tun sollten, es war gefährlich, zu gehen aber es war auch sehr gefährlich, zu bleiben.

Die Nacht vom 25. auf den 26. Februar war die schrecklichste Nacht, niemand schlief oder aß und wir dachten, dass wir den Morgen nicht erleben würden. Aber der Morgen kam, der Morgen des Tages, der noch 3 Tage zuvor mein schönster Geburtstag werden sollte. Ein Flugzeug wurde in unserer Nähe abgeschossen, verwundete Soldaten klopften blutüberströmt an die Tür. Außerhalb der Gebäude sahen wir Soldaten, die schossen und nach kurzer Zeit verstanden wir, dass es nicht unser Militär war sondern das russische. Ich bekam einen Anruf von einem Freund. Er ist beim Militär und er sagte mir, dass heute wahrscheinlich unsere letzte Chance sei die Gegend zu verlassen. Wir hätten diese Entscheidung schon lange getroffen, aber wir wussten auch, dass die Flucht sehr gefährlich sein konnte.

Wir entschieden uns für die Flucht und kamen unbeschadet aus der Stadt heraus. Noch während der Fahrt mit unserem Auto rief meine Mutter Freunde an, die in die Region Wolyn geflohen waren. Dort war es aktuell ruhig. Noch während der Fahrt suchte meine Mutter nach einer Unterkunft für uns. Spät am Abend, müde und erschöpft, wurden wir von helfenden Menschen in ein Haus gebracht, bekamen zu essen und gingen zum ersten Mal seit drei Tagen ins Bett.

Als wir am Morgen aufwachten, erfuhren wir, dass auf der Straße, auf der wir am Tag zuvor unterwegs waren, heftige Kämpfe ausgebrochen waren, dass russische Truppen in den Hotel- und Restaurantkomplex in dem meine Mutter und ich gearbeitet hatten eingedrungen waren, das alles bombardiert wurde und nun all unsere Sachen einfach niedergebrannt waren.

Nachdem wir uns von diesen Nachrichten etwas erholt und erkannt hatten, dass wir mit unserer Entscheidung Bucha zu verlassen im Glück gewesen waren, begannen wir uns in Wolyn ein wenig einzurichten. Wir trafen uns mit unseren Freunden und beschlossen, dass es im Moment die beste Entscheidung wäre, hier zu bleiben.

An diesem Ort lebten wir fast einen Monat, dann beschloss mein Vater nach Kiew zurückzukehren um unser Land zu verteidigen. Er reiste ab und wir blieben einige Wochen hier. Während dieser ganzen Zeit überredete mein Vater meine Mutter und mich, ins Ausland zu gehen, da er sich große Sorgen um uns machte.  Lange Zeit wollten wir das nicht aber eines Tages, als wir merkten, dass es überall gefährlich war, fuhren wir mit dem Bus nach Polen und dann mit dem Zug nach Deutschland.

Und so sind meine Mutter und ich hier gelandet… in Deutschland, ohne Verwandte, ohne Sprachkenntnisse (ich kann zwar gut Englisch, aber kein Deutsch), ohne zu wissen, was wir tun sollen, ohne Pläne für die Zukunft. Ich bin allen Deutschen unendlich dankbar, die uns mit einer Wohnung, mit anderen Dingen geholfen haben und die uns jetzt helfen.

Jetzt sind wir seit 6 Monaten hier, es gibt wunderschöne Natur, freundliche Menschen, wunderbare Architektur, aber alles ist irgendwie fremd und mein Herz ist immer in der Ukraine. Meine Freunde, Verwandten, mein Vater und mein ganzes Leben sind dort.

Nachdem ich zur Vernunft gekommen war und die Situation ein wenig akzeptiert hatte, begann ich zu überlegen, was ich im Ausland für die Ukraine tun kann. Als wir uns noch in Berlin aufhielten habe ich angefangen als Freiwillige im Bahnhof zu arbeiten. Der Bahnhof ist genau der Ort, an dem die Menschen zuerst ankommen und Unterstützung und Hilfe brauchen. Da ich Ukrainisch und Englisch kann, konnte ich helfen. Ich habe mit den Deutschen erste Hilfe verteilt: Lebensmittel, Getränke, Shampoos, Seife, Zahnbürsten und Zahnpasta, Kinderprodukte und vieles mehr… Nach meiner Rückkehr in die Heimat werde ich Waisenkindern helfen, die kein Zuhause und keine Eltern mehr haben, denn leider gibt es viele von ihnen  ebenso, wie es viele gibt, die gestorben sind…

Jetzt studiere ich online an meiner Universität im 2. Jahr und ich glaube, dass ich bald nach Hause zurückkehren werde. Ich träume von einer Zukunft in der Ukraine, ich möchte leben, lieben, meinen Vater lebendig und gesund umarmen, meine Verwandten küssen und wie früher in einem friedlichen und wohlhabenden Land leben.

Ich habe nie an dieser Zukunft gezweifelt und zweifle auch jetzt nicht daran. Ich weiß, wie stark unser Volk zusammenhält. […]

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Krieg.  Nur ein Wort.  Fünf Buchstaben.  Aber wie viele Assoziationen weckt es in uns! 

Schmerz, Zusammenhalt, Hoffnungsvolle Berichte, Sehnsucht nach geliebten Menschen, Hass und Liebe…

Ich bete für die Ukraine.

Nastya und ihre Mutter Nina wohnen aktuell in Thalheim (Erzgebirge).

Aufnahmen der zerstörten Hotelanlage aus März 2022 (1), Foto: Nastya Karpukhno
Aufnahmen der zerstörten Hotelanlage aus März 2022 (2), Foto: Nastya Karpukhno